Gewalt und Missbrauch: Viele quält die Erinnerung ans DDR-Kinderheim ein Leben lang


Es gibt Szenen aus seiner Kindheit, die gehen Kai Oppermann nicht mehr aus dem Kopf. Wie er Toiletten mit der Zahnbürste schrubben musste. Wie man ihn stundenlang, bis zur totalen Erschöpfung, Treppen hoch und runterlaufen ließ. Wie im Unterricht plötzlich ein Schlüsselbund auf ihn zuflog und ein Loch in seinen Kopf schlug.

Oppermann gehörte zu den rund 500.000 Kindern und Jugendlichen, die in DDR-Heimen untergebracht waren. Dass viele bis heute die Folgen von Gewalt und Vernachlässigung spüren, zeigt eine jüngst veröffentlichte Studie. Unter Federführung der Universität Leipzig hat der Forschungsverbund „Testimony“ die Erfahrungen Betroffener untersucht. Auch im Westen Deutschlands und im europäischen Ausland gab es in vielen Kinderheimen der Nachkriegszeit Gewalt und Missbrauch, was oft erst spät oder gar nicht aufgearbeitet wurde.

Zwar betonen die Forscher, dass es auch positive Berichte über die Kindheit im DDR-Heim gibt. „Es war Wendepunkt zum Besseren in meinem Leben“, sagte einer der Studienteilnehmer. Doch 80 Prozent der Befragten erzählten von emotionaler Vernachlässigung, 47 Prozent von körperlicher Misshandlung und 41 Prozent von sexuellem Missbrauch. Viele gaben an, unter Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen zu leiden.

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Privatfoto aus dem Jahr 1954 zeigt Christoph Sandig (4.v.r.) aus Leipzig, Jahrgang 1946, in einer Kinderheilstätte in Westdeutschland. Dorthin war er wegen mehrerer Lungenentzündungen geschickt worden. (zu dpa "Hunger, Heimweh, Schläge - «Verschickungskinder» fordern Anerkennung", nur s/w) +++ dpa-Bildfunk +++

Verschickungsheime für Kinder

Kai Oppermann ist heute 52 Jahre alt. Mit seiner Familie lebt er in einem Haus im sächsischen Penig. Auf dem Grundstück hat er Überwachungskameras installiert. „Ich muss immer alles unter Kontrolle haben“, sagt er. „Ich traue ja niemandem – außer meiner Frau und meinen Kindern.“ Klappen Autotüren vor seinem Haus zu, erinnere ihn das an die Männer, die ihn früher Hals über Kopf von einem Heim ins nächste gebracht hätten.

Als sie ihn zum ersten Mal abholten, war er drei Jahre alt. Damals wohnte er in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Die Familie mit den sechs Kindern war in den Fokus der Behörden geraten, weil die Eltern, wie Oppermann erzählt, nicht linientreu gewesen seien. Kai und sein Bruder Patrick kamen in ein Heim, konnten aber in Karl-Marx-Stadt bleiben. „Da war es richtig schön“, sagt er. Die Erzieher seien nett gewesen, hätten sich um die Kinder gekümmert.

Doch eines Nachts wurden er und sein Bruder plötzlich aus den Betten gerissen. Sie waren noch in Schlafanzug und Pantoffeln, als Männer sie in ein Auto steckten und in ein anderes Heim brachten. Warum, kann Oppermann bis heute nicht sagen. „Die haben gar nicht mit uns geredet“, erzählt er.

Jugend in DDR-Kinderheimen

Kai Oppermann: „Ich bin der Meinung, das gehört aufgearbeitet.“

Quelle: dpa/Sebastian Willnow

Auch diese zweite Station, ein Heim in Altchemnitz, habe ihm anfangs gefallen, sagt Oppermann. Aber nicht lange. Ausgerechnet der Mann, den er für seinen Lieblingserzieher hielt, habe ihn und Patrick missbraucht. Auf dem Dachboden – dort, wo sie keiner habe hören können. Später wurden die beiden Brüder getrennt. Kai Oppermann musste nach Meerane, in ein Spezialkinderheim. „Das waren die schlimmsten drei Jahre“, sagt er. In der Einrichtung habe Drill und knallharte Disziplin geherrscht. Keine Privatsphäre, keine Freizeit. Es sei stets um „Leistung, Leistung, Leistung“ gegangen.

Heute wird Oppermann von seinen Erinnerungen gequält, vor allem nachts. Albträume plagen ihn. Er nimmt Psychopharmaka und spricht mit einer Therapeutin über seine Vergangenheit. „Richtig verstanden fühlt man sich nicht“, sagt er. Von diesem Gefühl erzählen laut Studie viele ehemalige Heimbewohner. Besonders schlimm sei für die meisten aber gewesen, dass sie emotional misshandelt oder vernachlässigt und daran gehindert worden seien, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln, sagt eine Projektmitarbeiterin. Probleme in Beziehungen und anderen Bereichen des Lebens waren demnach oft die Folge. Jeder fünfte Studienteilnehmer war nach dem Heim mindestens einmal im Gefängnis.

„Eine Wiedergutmachung ist das nicht“

Kai Oppermann war im Leben erfolgreich – trotz seiner jahrelangen Odyssee durchs DDR-Heimsystem. „Gebrochen haben sie mich nicht“, sagt er. Mit 17 fing er eine Ausbildung zum Kraftfahrer an. Nach der Wiedervereinigung konnte er sich bis zum Werkleiter-Posten in einer Papierfabrik hocharbeiten. Er gründete eine Familie. „Meine Kinder habe ich nie geschlagen. Man kann alles ohne Gewalt regeln“, sagt Oppermann.

Und dennoch, die Vergangenheit, vor allem die Zeit in Meerane, lässt ihm keine Ruhe. Enttäuscht war Oppermann nach dem Gerichtsprozess um Misshandlungen in dem Spezialheim. Das Verfahren gegen vier Erzieher wurde 2004 eingestellt, nachdem die Angeklagten Geldbußen gezahlt hatten. Die Vorwürfe stritten sie jedoch ab.

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Über das Thema sollte mehr gesprochen werden, findet Oppermann. „Ich bin der Meinung, das gehört aufgearbeitet.“ Immerhin konnte er sich eine finanzielle Entschädigung aus dem Fonds „Heimerziehung in der DDR“ sichern. Über das Geld habe er sich zwar gefreut. „Eine Wiedergutmachung ist das nicht.“

Mit seinem Bruder hat Kai Oppermann nie über das geredet, was im Heim geschehen ist. Nachholen lässt sich das heute nicht mehr: Patrick starb bei einem Autounfall. Es gibt ein Foto, das die beiden Brüder bei der Einschulung zeigt, mit Schultüten in den Händen. „Von meiner Kindheit ist mir nichts geblieben – bis auf dieses Bild“, sagt Oppermann.

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